Kundgebung in Seelow
Rede bei der Veranstaltung zur Bürgermeisterwahl in Seelow am 25.08.23
Hallo zusammen!
Ich bin vom Offenen MOL Aktionsbündnis für Menschlichkeit und Solidarität in MOL.
Ich komme aus Müncheberg und bin besorgt, das unsere Kreisstadt, eine der kleinsten Deutschland, bald einen AFD-Bürgermeister hat.
Das Offene MOL ist ein Aktionsbündnis von Menschen und Gruppen aus dem gesamten Landkreis. Wir haben Mitglieder von Strausberg bis weit in den Oderbruch.
Wir sind 2019 entstanden um vor den Landtagswahlen ein Zeichen für Menschlichkeit und Solidarität setzen. Wir befürchteten damals ein weiteres Erstarken der AFD, was sich leider auch bewahrheitete: Sie verdoppelte ihre Stimmen und ist jetzt mit 23,6 % zweit stärkste Partei!
Wir befürchten bei der Landtagswahl 2024 so etwas Ähnliches, nur dann würde die AFD stärkste Partei und da graust es uns vor – und deshalb wollen wir als Offenes MOL dagegen systematisch arbeiten. Dazu werden wir dann auch in den nächsten Wochen zusammen zu einem kreisweiten Treffen einladen um eine Art Task Force, eine Aktionsgruppe, für solche Veranstaltungen wie heute zu bilden und uns überlegen, was wir denn sonst noch so tun können,
Immer dann, wenn sich Menschen in ihren Städten und Gemeinden gegen Diskriminierung, gegen Rassismus und Unmenschlichkeit einsetzen versuchen wir sie als Netzwerk dabei zu unterstützen.
So ist zum Beispiel auch Bad Freienwalde ist bunt entstanden, das jedes Jahr ein große Marktfest mit allen Bevölkerungsgruppen macht, und auch Müncheberg ist bunt.
Was wir bereits so alles gemacht haben und gerade planen können Sie auf unserer Internetseite lesen: offenesmol.net – aber das steht auch auf dem Flugblatt, das wir hier gerade an alle verteilen.
Ich möchte ein paar Gedanken zu Falk Janke sagen, den wir ja schon seit Jahren als aktiven und in die rechtsextreme Szene gut vernetzen Akteur kennen.
Sie haben hier kein unbeschriebenes Blatt vor sich, keinen Menschen, dem man ja erst einmal eine Chance geben muss, wie mir eine Seelowerin sagte.
Falk Janke hat seit Jahren Erfahrungen in rechtspopulistischen Parteien gesammelt, schon weit vor seiner Zeit in der AFD.
Begonnen hat er seine Parteikarriere in der CDU als Kreisgeschäftsführer von Märkisch-Oderland. Da war er 30, in Meinigen in Thüringen geboren und nach seiner Ausbildung als Bilanzbuchhalter nach MOL gezogen.
Im Jahr 2001 verließ er die CDU, die ihm nicht radikal genug war, und dann ging es los: Er versuchte sich als bei er rechtspopulistischen „Partei Rechtsstaatliche Offensive“. Besser bekannt als „Schill-Partei“.
Bei der Nachfolgepartei „Offensive-D.“ schaffte er es immerhin bis zum Landesvorsitzenden. Er wollte das Asylrecht aus der Verfassung streichen und eine multikulturelle Gesellschaft verhindern.
2005 gründete er die Wählervereinigung „Die Rechte – Mut zur Wahrheit!“ Zusammen mit der CDU bildete er in der Stadtverordnetenversammlung von Seelow die Fraktion „CDU/Die Rechte“, was bundesweit für Aufsehen sorgte.
Falk Janke arbeitet immer gerne mit Rechtsextremen zusammen: Bis 2014 bildete er mit der DVU sogar eine Fraktion im Kreistag von MOL.
Als Janke 2014 in die Kreistagsfraktion der AFD aufgenommen werden wollte, lehnte der damalige Fraktionsvorsitzenden Winfried Dreger dies ab. Dreger sagte damals, Janke würde die DVU verharmlosen, und kam mit dem Blick auf Jankes rechte Vergangenheit zu dem Schluss: „So jemanden brauchen wir nicht in der AFD!“
Den Kampf gegen Dreger gewann Falk Janke mit Unterstützung der Parteigrößen wie dem damaligen Parteichef Alexander Gauland.
Im März diesen Jahres sprach Janke von geflüchteten Menschen „mit schwierigen Mentalitäten“ und bezeichnete sie als „fremde Menschen mit fragwürdigen und meist abzulehnenden Einreisemotiven.“ Für Seelow fordert Falk Janke einen „Asylbewerber- und Migrationsstopp“ auf seinem Facebook-Profil. (Nur nebenbei: Glücklicherweise liegt das nicht im Ermessen eines Bürgermeisters).
Mittlerweile arbeitet Falk Janke für die AFD-Bundestagsfraktion, wo er gut vernetzt ist.
Trotzdem behauptet er als Bürgermeister ja nur Stadtpolitik machen zu wollen.
In seinem Wahlkampf betont Janke kein Mann der „Altparteien“ zu sein und wettert gegen seinen Gegenkandidaten als „Mogelpackung“. Mit einer solchen Rhetorik versucht die AFD immer wieder die Demokratie und ihre Institutionen lächerlich zu machen, bedient sich gleichzeitig aber all ihrer Vorteile: z.B. der Meinungsfreiheit auch rassistische und diskriminierenden Äußerungen machen zu dürfen und der öffentlichen Parteienfinanzierung.
Es geht nicht Stadtpolitik von Gesellschaftspolitik zu trennen, denn unsere Kommunen sind die Keimzellen der Gesellschaft, hier muss ich die Demokratie zeigen und beweisen.
Der zuständige Lokalredakteur der Märkischen Oder Zeitung verteidigte sich auf meine Kritik an der öffentlichen Veranstaltung mit beiden Kandidaten und der anschließenden Berichterstattung, damit, dass sie sich ausschließlich auf die Stadtpolitik bezogen hätte.
Aber genau damit verhilft man undemokratischen Politikern zu einer Bühne und macht sie wählbar, indem man so tut als ob sie unbeschriebene Blätter sind ohne Geschichte und gesellschaftspolitisches Handeln.
Falk Janke ist aber ein Überzeugungstäter, ein mehr oder weniger zielgerichteter Berufspolitiker, der versuchen wird, hier in Seelow seine Überzeugungen durchzusetzen.
Oder wenn man meint, dass man größere Chancen hat gewählt zu werden, wenn man Jankes politische Überzeugungen gar nicht anspricht – dann liegt man falsch. So wie es Roland Nitz mit seinem Wahlkampf gemacht hat.
Er hat übrigens ausdrücklich nichts mit unserer heutigen Veranstaltung zu tun und lässt uns auch nicht grüßen.
Oder wenn man glaubt, wie mir ein*e Mitstreiter*in aus unseren Reihen sagt, dass wir durch solche Aktionen wie heute, eher AFD-Wähler*innen mobilisieren, halte ich das für falsch. Wenn wir schon nicht mehr an unsere Demokratie glauben, wer dann sonst?
Zur Zeit verhält sich Falk Janke wie der Wolf im Schafspelz, aber wenn er erst einmal als Bürgermeister gewählt wird, wenn er nicht mehr auf die Stimmen der Wähler*innen angewiesen ist, dann werden wir uns für ihr als Bürgermeister unserer Kreisstadt schämen müssen.
Aber er wird ja nicht gewählt!
Rede des Netzwerks für Toleranz und Integration auf der Veranstaltung zur Bürgermeisterwahl am 25.08.23 in Seelow
Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,
ich freue mich wirklich sehr darüber, dass Sie so zahlreich erschienen sind – trotz dieser Mittagshitze und vielleicht bei dem einen oder anderen dem Ausklang aus der Ferienzeit.
Eine Rede anlässlich zu Bürgermeisterwahl am Sonntag zu halten, löst sehr gemischte Gefühle und Gedanken in mir aus. Denn die wirtschaftliche und politische Krise ist zu komplex und die Ängste bei Vielen sehr groß.
Darauf kann es keine einfachen Antworten geben. Und diejenigen, die das vorgeben, denen ist die Demokratie ein Dorn im Auge beim Fortbestehen ihrer Macht.
Ich vertrete hier das Netzwerk für Toleranz und Integration Märkisch-Oderland. Dieses Netzwerk wurde hier in Seelow vor über über 25 Jahren von engagierten Bürgerinnen und Bürgern und Vertreterinnen aus Politik und Verwaltung gegründet.
Damals wie heute ist der Anspruch Entwicklungen aktiv zu fördern für eine demokratische Gesellschaft. Zahlreiche Menschen setzen sich immer wieder sehr engagiert und kreativ für ein menschenwürdiges Miteinander ein.
Als das Netzwerk in den 90er Jahren gegründet wurde , war ich 15 Jahre alt. Und ein Grund für meine starken Emotionen heute, sind die Erinnerungen an diese Zeit, die man auch die Baseballschlägerjahre nennt.
Ich denke, dass einige, die hier stehen und meiner Generation angehören, wissen wovon ich rede. Als ich mit 13 Jahren das erste Mal Opfer einer Schlägerei mit einer Gruppe von Nazis wurde, erlebte ich meine persönliche Politisierung im Turbogang. Ich hatte bis dato kein Interesse und wenig Ahnung davon. Es folgten Jahre, die geprägt waren von alltäglicher Angst vor rechter Gewalt in der Schule, auf dem Sportplatz, auf Geburtstagsfeiern, in den Ferien auf dem Zeltplatz etc..
Im Unterricht wurde schon mal der Hitlergruß gezeigt, Gruppen in Bomberjacken bauten sich vor einem auf, Drohbriefe mit „Wir werden Euch aufklatschen“ „an die Wand stellen“ etc. waren normal. Was heute auf den Handys kursiert, wurde damals auf kleinen Zettelchen hin- und hergeschrieben. Die Parteien NPD und DVU waren in diesen Kreisen angesagt.
Warum erzähle ich das? Aktuell häufen sich die Berichte über rechte Gewalt an Schulen, Übergriffe auf Migrant:innen, queere Menschen usw.. Der Umgang damit erinnert mich sehr an die damalige Zeit: Diese Vorkommnisse werden vielerorts verharmlost oder aus einer Ohnmacht heraus nicht konfrontiert. Tausende von uns hätten damals die Unterstützung von Erwachsenen sehr gebraucht.
Auch in Hinblick auf diese Kundgebung habe ich mehrmals gehört, dass wir mit dieser Aktion noch mehr Aufmerksamkeit auf die Situation lenken würden. Aber ich bin davon überzeugt, dass eine leise Demokratie nicht funktioniert. Wir müssen Symptome und Ursachen konfrontieren!
Auch ich wünsche mir ein Leben in Frieden und in Sicherheit. Ich wünsche mir ausreichend soziale Angebote und Versorgung für alle Generationen, eine angemessen bezahlte und langfristige Arbeit, bezahlbaren Wohnraum, ein funktionierendes und einfaches zu verstehendes Schulsystem, in dem die Kinder gleiche Bildungschancen genießen, ein vielfältiges kulturelles Angebot, eine adäquate Verwaltung/Bürokratie, eine gute Nachbarschaft usw. Vieles, was da oben steht, ist nicht Teil meiner Realität.
Ich erlebe, dass Politik und Verwaltung keine ausreichend gute Arbeit macht und ein würdevolles Leben von Menschen - wenn´s sein muss - hinter die Interessen von Kapital gestellt wird.
Auch im Netzwerk für Toleranz und Integration ist das Engagement von Zivilgesellschaft in den letzten Jahren oft an dieser Logik gescheitert. Viele haben da keine Lust mehr drauf, sind nach jahrelangem aufreibenden Ehrenamt noch mehr gefrustet von „denen da oben“.
Doch unsere Perspektive, um aus dieser Situation eine bessere Welt zu entfalten, heißt niemals rechts.
Unsere Perspektive sucht Lösungswege, die auf Menschenrechtswerten fußt, wie Solidarität, Gerechtigkeit, Respekt, Toleranz, Dialog, ressourcenschonende Umgang mit der Umwelt und dem Menschen usw..
Eine gesellschaftliche Identität, die auf diesen Werten basiert, braucht eine Politik, die diese Werte in Theorie und Praxis vertritt.
Individuell sollten wir alle unseren Beitrag dazu leisten: Lass uns unsere Menschen so behandeln, wie wir gern selbst behandelt werden möchtet. Lasst uns freundlich zueinander sein.
Geben Sie uns, unseren Kindern und Enkelkindern, Nachbarn, Mitbürgerinnen und Mitbürgern die Möglichkeit ein Leben zu führen, in dem unser individuelles Sein respektiert wird.
Wählen Sie den Bürgermeister, der sich für die Werte der Demokratie, Vielfalt, Chancengleichheit und Solidarität, Sicherheit durch Dialog und Frieden einsetzt für ein gutes Leben in Seelow.
Gedanken im Nachgang zu der Demo in Seelow von Erika Wollanik
Netzwerk oder „Genauso hat es damals angefangen!“
Da legt doch plötzlich jemand sanft seinen Arm um meine Schulter und führt mich ein paar Schritte zur Seite, von dem Mikrofon weg, von der Kamera weg. Die sind von TV Seelow, die sind rechts, sagt der Mann, den ich von unseren Netzwerktreffen her flüchtig kenne. TV Seelow? Rechts? Wenigstens brauche ich jetzt nicht mehr mein Plakat vors Gesicht zu halten, um mich vor den fremden Blicken zu schützen. Der Kameramann und der Moderator, die mich soeben, ohne sich vorzustellen, überfallartig angesprochen und mir die Kamera vor die Nase gehalten haben, sind mir gleich nicht geheuer vorgekommen. Auf ihre Frage, warum ich heute hier sei, habe ich, so in die Bredouille gedrängt, höflicherweise, aber so vage wie möglich geantwortet, aus Solidarität mit Seelow. Ja, ich hatte Angst. Nur nebenbei, aber doch mit Genugtuung nehme ich wahr, wie sich jetzt ein paar Mitstreiter mit einem Spruchband vor das Kamerateam schieben und es hoch halten, um die Aufnahmen zu erschweren.
Das Plakat habe ich gestern Nachmittag für diese Demo gebastelt: zwei orangene DIN A 3-Bögen gegeneinander getackert und - weil der leicht und gut zu tragen ist - einen Plastetomatenstab zwischen beiden befestigt. Den Text mit der größtmöglichen PC-Schrift in schwarz und fett habe ich auf weißes Papier jeweils mittig auf die Vor- und Rückseite des Plakates geklebt. Das Ganze ist mit mir und dem Stock 2,80 m hoch, so dass es jetzt weit über die Köpfe der DemonstrantInnen hinweg ragt: Genauso hat es damals angefangen (Erich Weinert 1946).
Dieser Text ist mir wie aus dem Nichts heraus zugefallen, als ich mir überlegt habe, wie ich persönlich zur Gestaltung der Demo beitragen könnte. Den Spruch habe ich irgendwo schon einmal gehört, vielleicht ganz früher in der Schule. Jetzt ist er für mich sogar naheliegend. Denn im Laufe der Jahre habe ich immer mal
wieder darüber nachdenken müssen, wie es wohl mit dem Nationalsozialismus einmal angefangen haben könnte, wie es zu solch unbegreiflichen Taten gekommen sein kann, wie es möglich gewesen sein kann, dass Menschen Menschen systematisch verfolgen, quälen, vernichten. Zu einem Ende bin ich mit meinen Überlegungen aber nie gekommen. Zu unfassbar war mir das Böse, zu ungeheuerlich die Unmenschlichkeit gewesen. Genauso hat es damals angefangen. Ja, wie denn? Wie hat es denn damals angefangen?!
Ich rufe Pit an, weil ich ihn als weiteren Teilnehmer an der Demo gewinnen will. Aber bei Pit sind diese Woche gerade seine Enkelkinder zu Besuch. Ich höre sie im Hintergrund toben. Kannst du ja mitbringen, sagte ich und denke, dass es sogar gut ist, wenn die Kids von klein auf mitbekommen, was eine Demo ist und wie es da zugeht. Ja, sagt Pit, eigentlich ist es ja für die, die müssen mal damit leben. Aber gerade Freitag geht nicht.
Dafür sagt Albinus, obwohl er aus Berlin ist und wenig Zeit hat, sogar von sich aus, dass er gern mitkommen würde. Woher ich denn wissen will, dass ein AfD-Bürgermeister in Seelow keine gute Politik machen könnte, nimmt mir Ingrid, die ich danach anrufe, sofort den Wind aus den Segeln. Außerdem, sagt sie, müssen die meisten freitags ja arbeiten. Stimmt, warum soll ein AfD-Bürgermeister keine gute Politik machen können. Im ersten Moment fühle ich mich entwaffnet von ihrer Frage. Ich weiß nur, dass ich immer, wenn ein kompliziertes Problem zur Diskussion steht, kein Allerweltszeug reden oder irgendwelche Standardantworten geben will. Kein Rechthabewettbewerb, kein Argumentationsabtausch. Das kennen wir aus den politischen Talkshows und Politikerreden. Dafür die Bereitschaft, anderen vorurteilsfrei zuzuhören und deren Meinung zuzulassen und anzunehmen, falls die Argumente dafür überzeugend sind. Ingrid zum Beispiel würde ich bei einem solchen Gespräch darauf hinweisen, dass die von der AfD vorgesehenen Maßnahmen
(Schwächung der EU, Aussetzung von Maßnahmen gegen Klimawandel) vor allem ihre eigenen Wählerschaft treffen würden, weil sie vorwiegend zu den sozial Schwächeren gehören und dass ein AfD-Bürgermeister, wenn es darauf ankommt, logischerweise die Kommunalpolitik im Sinne seiner Partei beeinflussen wird. Für eine derartige Diskussion ist aber jetzt keine Zeit, denn ich will ja noch Dagmar anrufen.
Dagmar ist den ganzen Nachmittag nicht ans Telefon gegangen. Wahrscheinlich war sie im Garten und hatte das Klingeln nicht gehört. Dagmars Mann ist krank. Das weiß ich. Aber es ist jetzt so schlimm, dass sie ihn nicht allein lassen will. Natürlich verstehe ich nichts besser als das.
Bleibt noch Linde. Als hätte sie (85, kein Internet, kein WhatsApp) nur darauf gewartet, von einer solchen Veranstaltung informiert und dorthin mitgenommen zu werden, ist für sie sofort alles klar.
Also fahren wir am am 25.08. zu dritt nach Seelow.
Auf dem Markplatz sind Menschen, zum Teil mit Spruchbändern und Transparenten, versammelt. Ein überschaubares Häuflein. Aber immerhin genug, um Seelow TV auf den Plan zu rufen. Neugierig gesellen wir uns dazu, sehen uns die anderen Teilnehmer an, lesen die Plakataufschriften, lauschen den Reden, bekräftigen Kernsätze mit Zurufen und Applaus. Irgendwoher höre ich, dass keine oder kaum Seelower bei der Demo sind. Das wäre natürlich ärgerlich, denn dann würde unsere Anreise ja umsonst gewesen sein, denn nicht wir, sondern die Seelower werden am Sonntag darüber entscheiden müssen, wer in ihrer Stadt Bürgermeister werden soll. Sie wollen wir unterstützen, ihretwegen sind wir gekommen. Aber natürlich auch, um zu verhindern, dass ausgerechnet Seelow die erste Stadt im Land Brandenburg ist, in der ein Kandidat der AfD Bürgermeister wird. Die Frage über die Sinnhaftigkeit der Zusammenarbeit mit der AfD in den Parlamenten wird ja derzeit durchaus kontrovers diskutiert.
Allerdings frage ich mich angesichts dieses kleinen Häufleins auch, ob denn unsere Demo überhaupt etwas zu bewirken vermag. Weshalb engagieren wir uns? Wozu stehen wir hier? Um uns selbst Mut zu machen, uns zu zeigen, wie stark und wie viele wir sind? Oder den anderen? Können wir mit dieser Aktion auch nur einen einzigen Bürger von Seelow dazu bewegen, am Sonntag zur Wahl zu gehen und seine Stimme abzugeben? Und dann am besten auch noch für den parteilosen Kandidaten Robert Nitz und nicht für den von der AfD?
Auf der anderen Straßenseite sehe ich neben dem Eingang zum Landratsamt eine Frau auf der Bank sitzen. Die kennt sich sicher hier aus, die müsste eine Seelowerin sein. Falls es mir gelingen sollte, diese Frau dazu zu bewegen, übermorgen zur Wahl zu gehen und idealerweise sogar den parteilosen Kandidaten zum Bürgermeister zu wählen, dann hätte ich meine Aufgabe für heute erfüllt, denke ich. Ich übergebe das Plakat Albinus, gehe über die Straße und setze mich ebenfalls auf die Bank. Von hier aus betrachtet, ist das Häufchen, das ich da auf dem Marktplatz sehe, noch kleiner, noch bedeutungsloser. Ein Nachbar, der in Seelow arbeitet, fährt mit dem Auto vorbei, fährt langsamer, schaut hinüber zu der Versammlung. Vielleicht liest er eines der Transparente. Aber vielleicht ist er mit seinen Gedanken auch ganz woanders, vielleicht will er heute, am Freitag, zeitig Feierabend machen, weil er schon lange vorhatte, heute angeln zu gehen.
Bei dieser Gelegenheit wird mir bewusst, dass andere Menschen ganz andere Interessen haben als wir hier mit unserem Häufchen. Vom Angeln bis zum Salsa Tanzen oder der Muckibude gibt es unzählige Angebote, die Interessierte nutzen können. Jeder Mensch, der es möchte, kann sich irgendwo einbringen, um optimale Bedingungen zur Ausübung seines Hobbys und Gleichgesinnte zu finden. Die Möglichkeiten sind fast so vielfältig wie die Menschen selbst, und unser Hobby ist es eben, Demos zu organisieren und zu veranstalten. Vielleicht stellt sich unsere Sache von außen betrachtet, für andere durchaus in dieser Weise dar, denke ich.
Gehen Sie übermorgen wählen?, frage ich die Frau neben mir auf der Bank. Ist mir egal, sagt sie. Sie blickt nicht einmal auf dabei. Die machen doch sowieso, was sie wollen. Es scheint, als spräche sie mehr vor sich hin, als wisse sie gar nicht so recht, worum es geht, geschweige denn eine Meinung hätte. Ich merke, dass es sinnlos ist. Mit dieser Frau zu reden bringt nichts, auch wenn ich mir Mühe gebe. Enttäuscht muss ich mir eingestehen, dass es mir nicht gelingen wird, einen Menschen zu gewinnen, der am Sonntag wählen geht.
Möglicherweise sieht man mir meine Enttäuschung noch an, als ich zu den anderen zurückkehre. Auch sitzt mir immer noch der Schreck in den Knochen, den das Kamerateam vorhin bei mir ausgelöst hat. Jedenfalls spricht mich eine Frau an, die vorhin wohl die Szene mit TV Seelow beobachtet hat, und als ich ihr bekenne, dass ich Angst hatte, mich dann aber im Nachhinein über meine eigene Fehler ärgere, über meine Unprofessionalität und meine Ahnungslosigkeit, versucht sie erst gar nicht, mir die Angst und die Selbstvorwürfe auszureden, sondern hört mir einfach aufmerksam zu. Eine andere Frau, wohl eine Freundin von ihr, gesellt sich dazu. Redend stehen wir beisammen und unter Lachen erwägen wir schließlich die Idee, eine Gruppe „Omas gegen rechts“ zu gründen.
Nach eineinhalb Stunden dann das ernüchternde und schon bekannte Szenario bei der Beendigung von Demos: Einpacken der übriggebliebenen Flyer, Zusammenklappen der Tische, Aufrollen der Spruchbänder. Auch ich klemme mein Plakat, den Stock nach hinten, unter den Arm und gehe mit Linde und Albinus zum Auto zurück.
Wir haben uns zusammengetan, wir sind nach Seelow gefahren und sind auf der Demo präsent gewesen, wir haben getan, was wir konnten. Das ist das Resümee vom heutigen Tag, welches ich auf der Rückfahrt still für mich selber ziehe, und damit sollte ich mich auch zufrieden geben. Für geschichtsträchtige, heroische Taten ist unsereins ohnehin nicht geeignet. Unsere „Taten“ finden, wenn überhaupt, getragen von Zufälligkeiten und im banalen Alltag statt. Dass ich mit meiner Angst heute nicht ins Bodenlose, sondern in ein Netzwerk aus Menschen, die guten Willens sind, gefallen bin, das wird mir erst später, als ich schon im Bett liege, so richtig bewusst.
Zwei Tage danach wird in den Spätnachrichten des RBB das vorläufige Wahlergebnis bekanntgegeben: Bei der Bürgermeisterwahl in Seelow hat der parteilose Robert Nitz mit 67,8 Prozent der Stimmen die Wahl für sich entschieden. Etwas wie Stolz oder Freude kommt in mir auf. Dieses Mal und in Seelow haben wir also gewonnen.
Doch im September 2024 sind für die Landtagswahlen in Brandenburg für die AfD 32% der Stimmen vorhergesagt.
Es steht nicht gut für unsere Sache. Eher schlecht. Für vieles, was wir uns für die nähere und fernere Zukunft wünschen und erhoffen, steht es zur Zeit eher schlecht.
Aber wir müssen weitermachen. Trotz alledem.
P.S. Von dem Interview, welches TV Seelow mit mir machen wollte, ist übrigens nichts gesendet worden. Sonst nämlich hätten die Zuschauer das Plakat mit dem Spruch von Erich Weinert gelesen, das ich mir zu meinem Schutz halb vors Gesicht gehalten hatte: Genau so hat es damals angefangen.
Dahmsdorf, Sept./Okt. 2023
Alle Rechte für diesen Text bei der Autorin
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