"Du, liebe Milena*, musstest fliehen, ..."
Ein Text von H. Nies-Nachtsheim, den sie rund um die Mahnwachen geschrieben hat.
Der Besuch von Doris Lemmermeier, der ausgeschiedenen Integrationsbeauftragten des Landes Brandenburg, bei einer unserer 7 Mahnwachen vor dem Landratsamt Seelow.
DU - Freundin
Du, liebe Milena*, musstest fliehen, bist angekommen in irgendeiner Gemeinschaftsunterkunft (GU) für Flüchtlinge. Du musstest zurücklassen,was einmal dein Leben war: deine Heimat, deine Kinder, deine Mutter, deine Freunde, dein Haus... Ja, dein Leben ist in Stücke zerbrochen.
Ich bin aus freien Stücken hier, ich musste nicht fliehen, ich wohne mit meinem Mann in einem schönen Anwesen. Mein Leben ist im Vergleich zu deinem Leben luxuriös, auf hohem Niveau.
Will es der Zufall oder das Schicksal, dass wir, nur durch ein paar Meter getrennt, praktisch Wand an Wand leben.? Du in einem heruntergekommenen Plattenbau, in dem 250 Menschen aller Nationalitäten auf engstem Raum zusammengepfercht sind, geflohen vor Krieg, Folter, Armut, Todesbedrohung, Menschen, die den Verantwortlichen in Politik und Gesellschaft ein Dorn im Auge sind – also besser wieder weg mit ihnen?
Und ich, Wand an Wand mit der Düsternis eines Plattenbaus, bin in blühender Landschaft zu Hause, weder verfolgt noch bedroht: Wie geht dieser Kontrast zusammen?
Er geht nicht zusammen. Also stelle ich mir ein Gedankenspiel vor, einen winzigen Schritt der Annäherung...
Ich stelle mir einen Tausch vor: Ich, Bewohnerin eines stattlichen Anwesens muss umziehen in eine GU, in der ich nur noch dahinvegetiere, Und du, Bewohnerin einer trostlosen GU, darfst umziehen in ein Anwesen mit blühendem Garten, das dich freundlich aufnimmt.
Ein Gedankenspiel, nur mal so...wie fühlt sich das an? Ja,völlig daneben, fast schon zynisch.
Und doch, ich lasse nicht los: Ich weiß, ein Tausch ist absurd, ist vollkommen unrealistisch! Aber wie wäre ein „Komm rüber“, du bist eingeladen in meine blühende Landschaft, bring andere mit, ein Willkommen statt einer vernagelten Tür wartet auf euch, wir sind ein „Wir“, da ist keine Trennung zwischen „euch“ und „uns“, da tauschen wir unsere Geschichten aus für eine gemeinsame, neue Erzählung. Und am Ende, ganz am Ende könnte da nicht ein Weinen und ein Lächeln sein, eine Umarmung, ein Trost, ein Verstehen?
Liebe Milena,du musstest aus Armenien fliehen. Nicht nur weg von den kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Armenien, Berg-Karabach, Aserbeidschan, sondern auch, weil du dringend ärztliche Behandlung brauchst, die in Armenien unbezahlbar ist. Wie oft wurdest du hier von Ärzten der Charité in Berlin untersucht! Dringend notwendig sei eine OP und intensive Nachbetreuung, sonst hättest du nur noch zwei Monate! Ob dir diese medizinische Behandlung ermöglicht wird, hängt, schlimm genug, von denjenigen Personen, Ämtern und Institutionen ab, die das Recht haben, über dein bedrohtes Leben oder deinen möglichenTod zu entscheiden!
Seit einigen Wochen kommst du zu uns, mit anderen Frauen aus der GU. Ihr nehmt an einem Projekt für geflüchtete Frauen teil und seid zu einer Gruppe zusammengewachsen, in der ihr einander unterstützt und füreinander da seid. Du bist gerade ganz besonders auf Solidarität angewiesen, weil du zusätzlich zu all deiner Not auch noch deinen Abschiebungsbescheid erhalten hast, was in der Folge bedeutet: nur noch kurze Zeit Leben! Das wirft dich endgültig aus der Bahn. Deine Welt schrumpft zusammen, ein dunkles Loch.
Ich schaue dich an und habe Angst um dich. Du bist so zart und zerbrechlich: ein zitterndes Weinen, versteckt hinter einem schüchternen Lächeln.
Trotzdem nimmst du an den Angeboten in unserem Haus und Garten teil, so weit es dir möglich ist. Ihr habt gefragt, ob ihr bei uns einen kleinen Garten für Gemüse, Kräuter, Blumen anlegen könnt. Die ersten Spatenstiche sind getan, und jede Woche geht es weiter. Und irgendwann ist Ernte. Das wird ein Fest!
Außerdem bietet eine Freundin einen Yoga-Kurs an. Die Übungen helfen zu entspannen und auf die Bedürfnisse von Körper und Seele zu achten. Immer bringt ihr für die Pausen bei Tee, Kaffee und Gebäck für alle etwas zu essen und zu trinken mit. Eine fröhliche, gemütliche Runde. Da sind alle dabei, auch die Kinder, die Katzen und die Schildkröte und manchmal noch ein Zaungast. Tatsächlich kommt gerade unser albanischer Freund vorbei und legt einen Zaun um euren Garten zum Schutz gegen Rehe, Waschbären etc. Und der Tag wird hell.
Als ihr euch verabschiedet, läufst du auf mich zu, wirfst dich in meine Arme, ein Schluchzen und Zittern schüttelt dich, fast kippst du um, ich versuche dich zu halten, und dann sagst du zwischen Weinen und Lachen: „Du – Freundin!“
Das nimmt mir kurz den Atem. Ich -Freundin für dich? Wer bin ich, dass du mir so vertraust? Aber ich spüre dich in unserer Umarmung. Und ich sehe Helles in deinem weinenden und lachenden schönem Gesicht. Und muss selbst ein bisschen weinen und lachen, und ich bestätige dir von ganzem Herzen:
„Und ich – deine Freundin.“
Danke für dieses Geschenk!
Liebe Milena,
wir werden gemeinsam gegen deine drohende Abschiebung ankämpfen. Du bist nicht allein.
*(Name aus Datenschutzgründen verändert)
Gegenentwurf zu einer Politik der Ausgrenzung und Abschiebung
Ich stelle mir vor, wir würden das Sonett der jüdischen Dichterin Emma Lazarus beherzigen, das 1883 in den Sockel der Freiheitsstatue in Amerika eingraviert wurde: Die Freiheitsstatue, „Mutter der Migranten“, ist „ein Symbol des Empfangs und der Aufnahme der Verdammten der Alten Welt – ausgebeutet und geknechtet, von Hungersnöten, Kriegen und Elend dezimiert, Opfer des Hasses.“
„Behaltet, alte Küsten, euren Schein,
Gebt mir eure Armen,Entwurzelten,
voll Sehnsucht, frei zu sein,
die Seelen, die eure Ufer flohen.
Jener Schwachen will ich mich erbarmen.
An dem gold'nen Tor soll mein Licht lohen .“
( vgl: Donatella Di Cesare, Philosophie der Migration,
Matthes&Seitz, Berlin, 2021)
Wie hell könnte unsere Welt leuchten, offen für jede und jeden, wenn wir diesen Aufruf beherzigen würden!
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